H.Rosenlechner: Die Demokratie-Demenz

Der etwas längere Artikel geht der Frage nach, was eigentlich der Konstruktionsfehler unserer Demokratie ist, der dazu führt, dass regelmäßig unverantwortliche, skrupellose und zynische Menschen in die führenden Positionen des Staates und auch der Parteien gelangen? Und wie kommt es, dass ursprünglich sachorientierte und idealistisch denkende Menschen auf ihrem Weg  an die Orte der Macht moralisch deformiert werden.

https://socialkairos.wordpress.com/2024/11/17/demokratie-demenz/

 

Die Antwort gleich vorweg: weil ein System (Wahlen), das Machttaktik voraussetzt, Machttaktik belohnt und bestärkt; weil ein System (Wahlen), das Opportunismus voraussetzt, eben Opportunismus belohnt und bestärkt.

 

Wahlen sind der Kern des Problems

 

Wahlen werden gemeinhin als DAS definierende Merkmal einer Demokratie angesehen, in Wirklichkeit sind sie und die repräsentative Demokratie DAS Instrument, welches Echte Demokratie verhindert.  Der Wahlerfolg ist DIE Voraussetzung der politisch legitimierten Machtausübung. Das bedeutet, dass Machtpolitik für einen Parteipolitiker immer Vorrang haben muss vor Sachpolitik. Und die Partei ist im Vorteil, welche ihr Vorgehen populistischer auf das Ziel der Machtgewinnung ausrichtet und hierfür skrupelloser und manipulativer vorzugehen bereit ist:

 

„Bei Wahlen sind i.d.R. Politiker und Parteien umso erfolgreicher, je mehr sie das Ziel ihres Wahlerfolgs strategisch über alle anderen inhaltlich-politischen Ziele gestellt haben, und je mehr sie auch das Inhaltlich-Politische an seiner politischen Performativität ausgerichtet und gefiltert haben: Welche Botschaft, welche Wortwahl, welches Framing kommt am besten an? Welche Inhalte müssen wir hingegen vermeiden? Das politische Programm und seine Vermittlung werden dadurch auf ihre performative Effektivität, ihre kommunikative Wirksamkeit reduziert. Der Zweck heiligt die Mittel, und weder irgendein Ethos noch ein gesellschaftlicher Sinn sind das Beurteilungskriterium einer solchen Politik, sondern vor allem ihre Effektivität.“

 

Politik hat nicht primär das Ziel, eine Gesellschaft zum Wohlergehen aller zu gestalten, sondern Herrschaft auszuüben. Politische Gestaltung orientiert sich somit in erster Linie an der Frage, in wessen Interesse diese Herrschaft ausgeübt wird, und nicht daran, wie eine Gesellschaft vernünftig und zum allgemeinen Wohl organisiert werden kann. Repräsentative Demokratie in der Form der Wahldemokratie, wie wir sie heute meist für normal halten, ist das Instrument, echte Demokratie zu verhindern.

Das System der Wahlen trifft dann auf den Menschen. wir haben uns daran gewöhnt und sehen es inzwischen als normal an, dass in der Politik gelogen wird, Fakten verdreht oder ausgelassen werden, um sie in die gewünschte Form zu bringen. Entsprechend werden inzwischen krasse Fehlleistungen und dreiste Unverschämtheiten von Politikerinnen ohne Konsequenzen medial und öffentlich hingenommen. Hannah Arendt meinte, Lügen scheine zum „Handwerk des Politikers und Staatsmannes“ zu gehören und es habe schon immer sogar als erlaubtes Mittel gegolten. Das ist aber durchaus nicht einfach nur normal, sondern zwangsläufig notwendig, um zu verschleiern, dass politische Entscheidungen regelmäßig im Interesse kleiner Gruppen getroffen werden und bei sachlicher Betrachtung eben nicht „mehrheitsfähig“ sind.

 

Das Moral-befreite, kalte Nutzenkalkül kennt nur ein Beurteilungskriterium: Erfolg. Sobald der moralische Grundkonsens erodiert, heiligt der Erfolg auch die Mittel, die notwendig sind, um Erfolg zu haben. Was sich als erfolgreich erweist, wird gutgeheißen, was fehlschlägt, auf Grund seiner Ineffektivität verworfen.

 

Nicht jeder Mensch ist charakterlich für diese Ausrichtung auf den Erfolg geeignet. Das für den Wahlerfolg erforderliche System des Opportunismus und des machtstrategischen Taktierens zieht natürlich entsprechend rücksichtslose Menschen an, deren Erfolg dann wiederum das System stärkt und erhält. Anständige, an kooperativer Sachpolitik interessierte Menschen werden hingegen auf dem Weg nach oben regelhaft verdrängt. Die Wahldemokratie in ihrer herrschenden Form führt damit zwangsläufig in autoritäre bis totalitäre Systeme:

 

Dass populistische Politiker sich immer mehr radikalisieren und brutalisieren, liegt in der systemischen Logik des Macht-Apriori. Ihre Politik wird im Laufe der Zeit immer unmoralischer, autoritärer, gewaltbereiter und gewaltsamer. Da die erfolgreichsten von ihnen auch die größten Virtuosen der opportunistischen Machttaktik sind, genießen sie auch bei ihrer Anhängerschaft den größten Rückhalt – bis zum blindwütigen Fanatismus, den sie nötigenfalls auch gezielt anstacheln. Die logische Linie führt also erst zu weichem, dann zu hartem Autoritarismus, und schließlich zum Totalitarismus.

 

Demokratien sterben durch Wahlen.

 

Die Demokratie-Demenz beschreibt den Prozess, dass der eigentliche, ursprünglich demokratische Wahlprozess, der so hart erkämpft werden musste, selbst das Gen in sich trägt, genau diesen demokratischen Erfolg abzubauen und zu zerstören –  es treibt durch das Macht-Apriori Parteien und Politiker in die beschriebenen Teufelskreise – in Opportunismus, Autoritarismus und Totalitarismus. Wer hofft, dieser tödlichen Demokratie-Degeneration mit einem anderen Wahlverhalten beikommen zu können, bedient sich eben der Mittel, die die Krankheit verursachen. […] Wahlen und Parteien waren im 20. Jahrhundert „die“ Lösung: es ist ihnen in den meisten Staaten der Erde gelungen, die Gesellschaften von ihren monarchisch-theokratischen Fesseln zu befreien. Nun aber, im 21. Jahrhundert, sind sie nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems – sie sind das Problem. Der zynische Opportunismus der Parteien und Politiker (die Macht) verbindet sich mit dem zynischen Opportunismus der Milliardäre dieser Welt (dem Geld) zur GeldMacht.

 

Notwendig ist eine Besinnung der Zivilgesellschaft auf ihr eigenes Potential, welches ihr auch die Fähigkeit verleiht, sich selbst zu regieren:

  • FREIHEIT in allem Individuellen, d.h. im Geistig-Kulturellen.

Religionsfreiheit, Gedankenfreiheit, Redefreiheit, Kunstfreiheit, Pressefreiheit, Forschungsfreiheit, freie Schulwahl… sind die Säulen eines individuellen, liberalen, pluralistischen Geisteslebens. Jeder kann sich frei entfalten und nach seiner Fasson selig werden, so lange es niemanden sonst tangiert.

  • GLEICHHEIT dort, wo die freien Bürger ihre Eigeninteressen in gerechten Übereinkünften austarieren (Rechtsleben, Staat).

Wenn das Gemeinwesen nicht in einem Kampf aller gegen alle versinken soll, müssen die Bürger nach dem Prinzip der Gleichheit und Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person ihre Unabhängigkeits-Impulse austarieren.  Auch die Rechtsstaatlichkeit mit ihrer Gewaltenteilung ist eine konkrete Manifestation des Gerechtigkeits-Impulses: sie ist das lichte Gegenbild jener düsteren oligarchischen Verhältnisse, die die GeldMacht herbeiführen will.

  • BRÜDERLICHKEIT dort, wo die Menschen in wechselseitigem Bedürfnisausgleich das größtmögliche wirtschaftliche Wohlergehen der größtmöglichen Anzahl herbeiführen.

Überall, wo die Schwächeren nicht von den Stärkeren, die Machtlosen nicht von der GeldMacht daran gehindert werden, sind solidarisch-wirtschaftliche Kooperationsformen entstanden. Ein Wirtschaftsleben, an dem alle Interessengruppen mit-entscheidend teilhaben und in dem sie ihre Bedürfnisse in gegenseitigem Verständnis ausgleichen, entspricht dem sozialen Wesen des Menschen.

 

Politiker und Parteien sind nicht nur das Haupthindernis für die freie Entfaltung des zivilgesellschaftlichen Potentials, sie drohen durch die ihnen eigenen  Wirkmechanismen die Zivilgesellschaft und inzwischen auch die ökologischen Lebensgrundlagen zu zerstören.

 

Zeit für das Kollektiv.

Axl
Author: Axl

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